Bündner Monatsblatt
ISBN-Nr.: buendner-monat
In der Ausgabe 4/2023 untersucht Regula Bochsler die soziale Situation der deutschen Angestellten der Emser Werke in der Nachkriegszeit. Schon während des Zweiten Weltkriegs hatte die damalige HOVAG («Holzverzuckerungs-AG) Berater aus Deutschland hinzugezogen, um die Anlagen zur Ersatztreibstoff-Produktion («Emser Wasser», aus Holzabfällen gewonnenes Ethanol) überhaupt aufstellen zu können. In den 1950er Jahren war man erneut auf den Wissenstransfer aus Deutschland angewiesen; nun ging es darum, die Produktionsumstellung auf Kunstfasern, Kunststoffe und Kunstharze zu schaffen. Die deutschen Spezialisten, die in den Nachkriegsjahren nach Domat/Ems geholt wurden, hatten allerdings teilweise eine Nazivergangenheit. Die grenzüberschreitende Anzapfung und Absaugung technischen Wissens darf zudem als Industriespionage bezeichnet werden.
Die hochqualifizierten Zuzüger wurden von der lokalen Bevölkerung keineswegs mit offenen Armen empfangen. Der Ausdruck «Sauschwaben» fiel, und es wurde über «kleine Götter im Werk» gelästert. Nicht verwunderlich, dass die deutschen Angestellten in der Emser Werksiedlung Padrusa unter sich blieben. Nach erfolgtem Familiennachzug stellte sich die grosse Herausforderung der sozialen Integration natürlich vor allem den Kindern.
Der Artikel entspringt einem Nachfolgeprojekt zu Regula Bochslers ebenfalls vom Institut für Kulturforschung Graubünden ikg unterstützter Untersuchung über «die Geschäfte der Emser Werke und ihres Gründers Werner Oswald» – das 2022 vom ikg herausgegebene Buch Nylon und Napalm ist auf Anhieb zum historischen Bestseller geworden.
Der zweite Beitrag in dieser Monatsblatt-Ausgabe schlägt ins sprachwissenschaftliche Fach. Er basiert auf einem Vortrag, den der bekannte Rätoromanist Clau Solèr im Juli dieses Jahres an der Uni Salzburg gehalten hat. Unter dem Titel «Abgrenzungen im Bündnerromanischen. Einordnungsversuch einer kleinen Sprachwelt» zeigt der Artikel einige oft vernachlässigte oder weniger bekannte Aspekte des Themas auf und hinterfragt sie kritisch. Zugespitzte, aber stets gut durchdachte und belegte Formulierungen verhelfen zu wertvollen Denkanstössen.
Das Heft wird abgerundet durch Besprechungen aktueller Buchveröffentlichungen aus dem kulturwissenschaftlichen Bereich.
Das Bündner Monatsblatt 3/2023 bietet den Preisträgerinnen und Preisträgernder Bündner Kulturpreise 2023 eine Bühne. Die Hauptpreisträgerin, Tilla Theus, wird ausführlich vom Präsidenten der kantonalen Kulturkommission, Köbi Gantenbein, gewürdigt und ihr Werk wird vorgestellt. Tilla Theus ist die erste Architektin, die diese hohe Auszeichnung des Kantons Graubünden erhält, und es ist eindrücklich, ihr majestätisches und zugleich filigranes Bauen zu entdecken. Auch ihr sehr persönlicher und berührender Dank an den Kanton ist im Bündner Monatsblatt nachzulesen.
Köbi Gantenbein stellt zudem in launigen kurzen Porträts die Anerkennungs-und Förderpreisträger:innen 2023 vor: Ein illustrer Reigen von Persönlichkeiten– vom Schauspieler Bruno Cathomas über die international bekannte Konzertsängerin Letizia Scherrer und die Designerin Anna Laura Klucker bis zumJournalisten und Verleger Christian Imhof, nebst vielen anderen.
Im kunstgeschichtlichen Beitrag befasst sich Sophie Haesen mit der Kasel von Chur, die im Domschatzmuseum Chur zu bewundern ist. Die exakte Herkunft dieses kostbaren seidenen Messgewandes mit kufischen bzw. arabischen Schriftzeichen ist bis heute nicht abschliessend geklärt. Detailgenau und mit schönem Bildmaterial stellt die Autorin dieses bedeutende Kulturgut vor. Sie zeigt die möglichen Herkunftswege auf und geht den breitgefächerten Auslegungen der Inschrift nach.
In einer ersten Rezension wird die von Andreas Simmen und dem ikg neu herausgegebene und kommentierte Edition der Wanderungen durch die Rhätischen Alpen von Peter Conradin von Planta besprochen. Michael Egli, ein ausgewiesener Augusto Giacometti-Spezialist, beleuchtet schliesslich die von Marco Giacometti verfasste Biografie des Künstlers: Augusto Giacometti – In einem förmlichen Farbentaumel. Ein neues umfassendes Standardwerk in der Augusto Giacometti-Forschung.
Im 16. Jahrhundert waren die Studenten sehr mobil. Kaum dem Kindesalter entwachsen, zogen sie als «fahrende Scholaren» durch die Lande. In Gruppen von Gleichaltrigen ging es auf Wanderschaft. In fremden Städten kam man als Tischgänger bei Gelehrten unter, die einem Unterricht erteilten. Dabei war man auf die Netzwerke der Väter angewiesen. Janett Michel stellt das Beispiel des Johann Heinrich Bullinger in den Fokus. Diesem Schüler gab sein einflussreicher Vater – der Nachfolger Zwinglis in Zürich – lateinisch geschriebene Instruktionen mit auf die Reise, von Benimm- und Hygieneregeln bis zu Lernmethoden. Der Reformator und Kirchenpolitiker Heinrich Bullinger unterhielt beste Beziehungen zu Friedrich von Salis-Samedan, dessen Sohn wiederum in Zürich studierte. Michel, der auch die Korrespondenz der Väter ausgewertet hat, kommt zum Fazit: Die wandernden Scholaren waren «ausgesetzt, aber nicht wehrlos».
In der Stadt Chur spielte sich die Lebensgeschichte des Bernhard Köhl (1624–1700) ab. Dieser aus einer mittelständischen Familie stammende Tuchhändler war ein überaus geschickter Geschäftsmann, der in den Zünften – die in Chur alles dominierten – Karriere machte. Schliesslich wurde er zum Bürgermeister der Stadt und zum Bundespräsidenten des Gotteshausbundes gewählt. Obendrein erhielt er vom Fürstbischof einen Wappenbrief, der auch seine ganze Nachkommenschaft adelte. In der neuen Monatsblatt-Ausgabe erzählt Markus Köhl die Geschichte des illustren Vorfahren. Dabei lernen wir Bernhard von Köhls Frau und Töchter (und eher fragwürdige Schwiegersöhne) kennen, überblicken das in etlichen Liegenschaften angelegte Vermögen und die Schulstiftung und betrachten die wappengeschmückten Grabplatten der Köhlschen Familiengräber auf dem Scaletta-Friedhof (Stadtgarten).
Auf die beiden historischen Artikel folgen im aktuellen Monatsblatt drei sprach- und literaturwissenschaftliche Beiträge. Peter Masüger zeigt auf, wie viel romanisches Sprachgut in Orts- und Flurnamen «konserviert» ist, wie die Dörfer und Bergspitzen in Graubünden zu ihren (alt-)rätoromanischen, deutschen und italienischen Namen kamen. Der Philologe Jens Loescher erörtert die territoriale und die «versteckte» Vielsprachigkeit in den Schulzimmern Graubündens – sowie im Vergleich: Freiburgs – und plädiert dafür, diese zugunsten aller Schülerinnen und Schüler einzusetzen. Abschliessend nimmt Cordula Seger die Leserinnen und Leser mit auf einen literarischen Bummel durch das Oberengadin, der deutlich macht, wie stark die Engadiner Literatur die touristische Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert spiegelt und diese zugleich gefördert hat.
Im Rezensionenteil dieses Heftes werden besprochen: die Monographie von Laura Decurtins über den bedeutenden Bündner Komponisten Gion Antoni Derungs (rezensiert von Manuela Jetter) und der zweite Band von Urs Altermatts grossangelegter Geschichte der schweizerischen Bundesratswahlen (rezensiert von Adolf Collenberg).
Margherita Garbald (1880–1955) war die weniger bekannte Schwester des bekannten Andrea Garbald, des ersten Berufsfotografen und fotografischen Chronisten des Bergells. Die zwei Geschwister, beide alleinstehend und kinderlos, bewohnten bis an ihr jeweiliges Lebensende die vom berühmten Architekten Gottfried Semper erbaute Villa Garbald in Castasegna. Emanzipierte Tochter einer emanzipierten Mutter – der Schriftstellerin Silvia Andrea (Johanna Garbald-Gredig) –, war Margherita die erste Bündner Fotografin mit Fachausbildung. Sie war auch im Metier tätig, arbeitete bis 1925 im Fotogeschäft ihres Bruders. Danach widmete sie sich dem Kunsthandwerk, führte aber ausserdem eine Haushaltsschule mit Italienischunterricht. War sie als Fotografin wirklich bloss die Assistentin ihres Bruders? Oder stammen so manche der ausdrucksstarken fotografischen (Frauen-)Porträts, die dem Andrea Garbald zugeschrieben werden, in Wahrheit von Margherita? Diese Fragen wirft der Beitrag von Silvia Hofmann auf, der einfühlsam Margherita Garbalds Lebensgeschichte nachzeichnet.
Landschaftsprägend wirkt im Bergell die Burganlage Castelmur auf dem Felsriegel ob Promontogno. Schon in spätrömischer Zeit ist «Murus» als Strassenstation bezeugt. Im 10. Jahrhundert erhielt der Bischof von Chur die Wehranlage mit dem Zollrecht vom Kaiser übereignet. Zur Schenkung gehörte auch die im Burgareal stehende Pfarrkirche Nossa Donna. Später war Castelmur zwischen der Stadt Chiavenna und den Bergellern umstritten. Die Burg galt dann als Grenzpunkt des Bistums Chur. Im 19. Jahrhundert erwarb die Familie de Castelmur die Anlage – Nachfahren jener Lehensmannen, welche die Burg schon im Mittelalter besessen hatten. Die modernen Castelmur errichteten auf dem Felsriegel einen für Graubünden einzigartigen Landschaftspark mit einer Villa als Familienwohnsitz und einem Neubau der Kirche als Familienmausoleum. Den markantesten Teil Anlage bildet jedoch der mächtige fünfgeschossige Bergfried. Dessen 800-jährige Baugeschichte rekonstruieren Monika Oberhänsli und Manuel Janosa (Archäologischer Dienst Graubünden) in ihrem Beitrag.
Einige Parallelen zur Burg Castelmur zeigt die Burg Tschanüff bei Ramosch. Auch sie hatte ein nachmittelalterliches Nachleben. Ihre «neuzeitliche Bau- und Verfallsgeschichte» wird von Jon Mathieu dargestellt. Tschanüff bildete ein Lehen des Bischofs von Chur an aristokratische Engadiner Familien, die a Porta von Scuol und die Planta-Zuoz. In einem politischen Tumult gebrandschatzt, wurde die Burg 1565 wieder erstellt und galt fortan als stolzes «Schloss». Da residierten nun die «Kastellane», bis 1728 ein Teil der Anlage ins Tobel stürzte. Hundert Jahre später begann eine romantische Verklärung der auch als Ruine noch imposanten Burg. Sie wurde sehr oft gezeichnet und fotografiert sowie dichterisch besungen. Im späten 19. Jahrhundert von den Nachfahren der Kastellane an lokale Familien verkauft, ging Tschanüff 2001 an eine Stiftung über. Es folgten Restaurierungsarbeiten und eine bauhistorische Untersuchung mit spannenden Ergebnissen.
Auch diese Ausgabe des Bündner Monatsblatts wird durch einen Rezensionenteil abgerundet. Besprochen werden zwei neue Publikationen aus dem kulturgeschichtlichen Bereich.
Carlo Crameri, Beauftragter für Aussenbeziehungen des Kantons, zeigt anschliessend die Vorteile der unkomplizierten Zusammenarbeit der Verwaltungen innerhalb der ARGE-ALP-Mitgliedsländer auf. Flurina Camenisch und Dr. Georg Heinzle des Staatsarchivs Graubünden zeichnen abschliessend die historischen Merkpunkte der Entwicklung der ARGE ALP nach. Auch hier wird deutlich, welchen Mehrwert dieses innovative Kooperations- und Friedensprojekt für die im Alpenbogen lebenden Menschen hat.
In zweiten Teil des Heftes beschreibt Albert Fischer, wie einst die katholischen Pfarrstellen im Dekanat Engadin (zu dem auch das tirolische Nauders gehörte) besetzt wurden. Seit dem ausgehenden Mittelalter genossen die Kirchgemeinden dabei eine zunehmende Mitsprache. Sie beanspruchten für die Einsetzung neuer Priester das Vorschlagsrecht gegenüber dem Bischof.
Abgerundet wird das Bündner Monatsblatt mit zwei Rezensionen. Magaly Tornay, eine für das Thema Psychiatriegeschichte ausgewiesene Fachperson der Universität Bern, bespricht die vom Kanton Graubünden in Auftrag gegebene Untersuchung der Geschichte der Psychiatrie in Graubünden der Autor:innen Silas Gusset, Loretta Seglias und Martin Lengwiler. Mit Daniel Sprechers Rezension über Diego Giovanolis Dorfbiografie von Jenins schliesst sich das Jahr des Bündner Monatsblatts 2022.
Mit dem malerischen Werk eines weiteren Engadiner Künstlers setzt sich Beat Stutzer auseinander. Der im vorigen Jahr verstorbene Jacques Guidon hat ungegenständliche Bilder in Öl oder Acryl oder sogar in Mörtelmasse geschaffen. Er pflegte eine sehr ungestüme, gestische Malweise, bei der nebst dem Pinsel auch der Spachtel und sogar der Besen zum Einsatz kamen. Stutzer charakterisiert die Entwicklung, die Guidons Oeuvre über vier Jahrzehnte hinweg genommen hat.
Wie das Kloster Disentis sich einen neuen alten Hochaltar beschaffte, schildert Pater Urban Affentranger. Der barocke Hochaltar war beim Klosterbrand in der Franzosenzeit 1799 zerstört worden. Ein vollwertiger Ersatz wurde erst in den 1880er Jahren gefunden, als vermehrt barocke Altäre auf den Markt kamen (weil viele Kirchen in neugotischem Stil restauriert wurden). Nach Versuchen im Kanton Schwyz, in Tirol und in Oberbayern konnten die Disentiser Patres einen günstigen Kauf in Niederbayern tätigen.
Die erste Besprechung im Rezensionsteil gilt dem vom Institut für Kulturforschung Graubünden herausgegebenen Buch von Karin Fuchs, Eugen Stuber und Paul Grimm über Johann Coaz, den Pionier des bündnerischen und schweizerischen Forstwesens. Eine kritische Würdigung erfahren sodann auch jene jüngeren Publikationen über Palazzi im Veltlin und in Südbünden bzw. über das Schloss Bothmar in Malans, die Diego Giovanoli zum Hauptautor oder alleinigen Verfasser haben.
Die beiden Beiträge in dieser Ausgabe des Bündner Monatsblattes widmen sich Formen der bildlichen Überlieferung im 19. Jahrhundert. Im ersten Beitrag werden neu entdeckte Graffitis in der Casa Gubert in Soglio vorgestellt und im zweiten Beitrag kann das eindrückliche fotografische Werk eines der ersten Fotografen von Chur entdeckt werden.
Wie kann Erlebtes erinnert und festgehalten werden? Wie erzählen wir unsere Geschichte für uns und unsere Nachkommen? Um 1800, als fotografisches Bewahren noch nicht zugänglich war, waren Graffitis eine Möglichkeit. Die überraschend im Jahr 2020 entdeckten Graffitis in der Casa Gubert in Soglio sind ein bedeutsames Zeugnis der historischen Schrift- und Zeichenkultur im Kanton und ermöglichen einen interessanten Blick auf das Bündner Dorf um 1800 und einige seiner Bewohner. Die Archäologin Yolanda Alther hat die Zeichnungen und Schriftzeichen sorgfältig untersucht und ordnet sie anhand von vielen Beispielen in ihren historischen Kontext ein.
Im zweiten Beitrag zeichnet Katarzyna Mathis, stellvertretende Churer Stadtarchivarin, das Leben und Wirken des Kunstmalers, Fotografen und Cafetiers Israel Darms (1808–1887) nach. Zwischen Triest und Chur pendelnd, versuchte Darms als Sohn eines erfolgreichen Kaffeehausbetreibers – und damit vorgesehen als zukünftiger Patron –, seiner künstlerischen Neigung Raum zu geben, zuerst dem Malen, später den neu entwickelten fotografischen Verfahren. Wie es ihm gelang, seine grosse Leidenschaft tatsächlich zu leben und dabei ein beeindruckendes fotografisches Werk zu schaffen, wird im Beitrag detailliert dargelegt. Viele äusserst interessante Aufnahmen begleiten den Text, so ist unter anderem eine der frühesten Fotografien der Stadt Chur abgebildet.
Abgerundet wird das Bündner Monatsblatt mit vier Rezensionen. Leza Dosch stellt das Werk von Roland Flückiger-Seiler über das Kurhaus Bergün vor, Adolf Collenberg widmet sich den neu edierten Rechtsquellen der Gerichtsgemeinden am Hinterrhein, Gion Rudolf Caprez hat das Buch von Luzi C. Schutz über die Ostalpenbahn rezensiert und Beat Stutzer schliesslich bespricht die von Caroline Kesser neu herausgegebenen Tagebücher von Augusto Giacometti.
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